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Diskussion der potenziellen Zusammenhänge, Mechanismen und Wirkungswege auf die Ätiologie parodontaler Entzündungen

(c) Doris Jungo/pixelio.de

Seit der verstärkten Betrachtung der systemisch-inflammatorischen Prozesse im Hinblick auf die Ätiologie der parodontalen Entzündung befinden sich auch wieder Nahrungsmittel im Fokus von wissenschaftlichen Untersuchungen. Einfache, isolierte, prozessierte Kohlenhydrate wie Zucker und Weißmehle in Säften, Softdrinks, Süß- und Backwaren scheinen dabei einen besonderen proinflammatorischen Einfluss auf die gingivale und parodontale Entzündung zu haben. Angesichts des häufigen Konsums dieser Nahrungsmittel in der Bevölkerung könnten diese Zusammenhänge einen Anteil an der hohen Prävalenz von parodontalen Entzündungen haben. PD Dr. Johan Wölber und PD Dr. Christian Tennert beleuchten in ihrem Beitrag in der Parodontologie 4/2017 vermutlich zugrundeliegende Mechanismen und Wirkungswege.

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Einleitung

Neuere Theorien zur Ätiologie von gingivalen und parodontalen Entzündungen betonen die Bedeutung von lokalen und systemischen Entzündungsprozessen als Voraussetzung für die Entstehung einer Dysbiose1,2. Potenziell parodontalpathogene Keime sind auf die Begleitbedingungen der gingivalen Inflammation an­gewiesen (erhöhte Sulkusfluid­ex­sudation, erhöhte Temperatur) und demnach als inflammophil zu bezeichnen2,3. Die Ernährung hat dabei einen wesentlichen Einfluss auf körperliche Entzündungsprozesse, wobei den Kohlenhydraten eine proinflammatorische Bedeutung zukommt4. Dass dieser proinflammatorische Einfluss der einfachen Kohlenhydrate allerdings nicht nur systemische Inflammationsmarker wie CRP, IL-6, IL-8, TNF-α, Serum Amyloid A und lösliches interzelluläres Adhäsionsmolekül-1 (sICAM) erhöht, sondern auch klini­sche parodontale Parameter wie Gingivaindex oder Bluten auf Sondieren beeinflussen kann, soll in den folgenden Abschnitten genauer beleuchtet werden.

Ergebnisse klinischer Studien

Eine Studie von Baumgartner et al.5 zeigte an einem Patientenkollektiv von zehn Probanden, die sich vier Wochen unter Steinzeitbedingungen aufhielten, dass sich die gingivalen Entzündungswerte der Probanden signifikant reduzierten, obwohl sie unter dem Wegfall der Mundhygienemaßnahmen eine erhöhte Plaqueakkumulation aufwiesen. Dabei fiel das durchschnittliche Bluten auf Sondieren von 34,8 Prozent auf 12,6 Prozent Die Autoren der Studie schlussfolgerten, dass das Protokoll der experimentellen Gingivitis nach Löe et al.6 bei einer Restriktion von prozessierten Kohlenhydraten nicht länger gültig ist. Die Ergebnisse sind im Einklang mit einer Meta-Analyse von Hujeol7, in der die Zusammenfassung von sechs klinischen Studien einen signifikanten proinflammatorischen Einfluss von Zucker auf Gingivitis zeigte. Aufgrund dieser Untersuchungen wurde

die Reduktion von einfachen Kohlenhydraten in ein eigenes Studienprotokoll für eine randomisierte kontrollierte Pilotstudie aufgenommen (neben der Betonung von Omega-3-Fettsäuren, Vitamin D, vitaminhaltigem Obst und Gemüse und Ballast­stoffen)8. Die Ergebnisse zeigten auch hier, dass es in der Experimentalgruppe nach vier Wochen unter optimierten Ernährungsbedingungen zu einer sig­nifikanten und klinisch relevanten Reduktion der gingivalen Blutung und des Blutens auf Sondieren (BOP) kam, obwohl die Plaquewerte konstant blieben. In diesem Zusammenhang ist zudem eine Querschnittsuntersuchung von Lula et al.9 zu nennen. Die Studie konnte anhand der NHANES III Daten zeigen, dass der hochfrequente Konsum von zugesetzten einfachen Kohlenhydraten signifikant mit dem Vorhandensein einer Parodontitis korrelierte.

Systematische und direkte Einflüsse

Neben diesen vermutlich systemisch bedingten Wirkungen sind noch direkte Einflüsse von einfachen Kohlenhydraten auf den dentalen Biofilm beschrieben. Während Gängler et al.10 sowie Sidi und Ashley11 einen gingivitisfördernden Einfluss einer zuckerreichen Ernährung ohne quantitative Ver­än­de­rungen der Plaque ermittelten, stellten Rateitschak-Plüss und Guggenheim12 auch eine erhöhte Plaquebildungsrate unter einer zuckerreichen Ernährung fest.

Aufgrund dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, was mögliche systemische Wirkmechanismen im Hinblick auf den positiven Einfluss von einfachen Kohlenhydraten und die gingivale und parodontale Entzündung sein könnten.

Tab. 1 Kategorisierung verschiedener Kohlen­hydrate nach Mann et al.13.
Tab. 1 Kategorisierung verschiedener Kohlen­hydrate nach Mann et al.13.

Wirkung einfacher, isolierter Kohlenhydrate

Kohlenhydrate gehören neben den Proteinen und Fetten zu der Gruppe der Makronährstoffe. Sie dienen hauptsächlich der Energiegewinnung und haben einen Brennwert von 4 kcal/g. Die Grundbausteine der Kohlenhydrate bilden Zuckermoleküle. Je nachdem, wie viele Zuckermoleküle aneinander gebunden sind, werden einfache (kurzkettige) und komplexe (langkettige) Kohlenhydrate unterschieden. Einfachzucker bestehen aus nur einem Zucker­molekül, Zwei­fachzucker aus zwei Zuckermolekülen und Mehr­fachzucker bestehen aus drei oder mehr Zucker­molekülen (Tab. 1)13. 

Abb. 2 Isolierte, prozessierte Saccharose.
Abb. 2 Isolierte, prozessierte Saccharose.
Foto: Doris Jungo / pixelio.de

Einfache, also kurzkettige Zucker kommen fast ubiquitär in Früchten, Gemüsen, Nüssen, Samen und anderen pflanzlichen Lebensmitteln vor (Abb. 1a und b). Wesentlicher Unterschied zwischen natür­lichen und prozessierten Kohlenhydratquellen ist ihre Zusammensetzung, vor allem in Hinblick auf ihre Kombination mit Ballaststoffen. Während natürliche Lebensmittel zwangsläufig mit Ballaststoffen (in Form von Zellwand- und Gerüststrukturen) einher­gehen, wirken isolierte, prozessierte Kohlen­hydrate ohne ihren natürlichen Wirkverbund. Dies hat schwerwiegende physiolo­gische Auswirkungen. Im Falle von isolierter, pro­zessierter Saccharose (Fabrikzucker, Haus­halts­zucker) haben sowohl die isolierte Glukose als auch die isolierte Fruktose metabolische Konsequenzen (Abb. 2). Bei der Glukose sind dies Folgen für den Blutzucker- und Insulinspiegel. Isolierte Glukose bedingt einen übermäßigen Anstieg des Blutzuckerspiegels, der wiederum eine überschießende Insulinausschüttung mit sich bringt. Infolge der starken Insulinausschüttung kommt es nach wenigen Stunden zu einem reaktiven Unterzucker (Hypoglykämie), der mit einer Stress­reaktion für den Organismus verbunden ist14. Ein frequenter Konsum von isolierter Glukose führt über diesen Wirkweg zu vermehrtem Hunger (und daher zu einer hyperkalorischen Energie­bilanz), zu ver­stärk­tem Stress­empfinden und somit langfristig zur För­derung von Übergewicht und verminderter In­sulin­sensitivität (Dia­betes Typ II)15,16. Die frequente Ausschüttung von Stresshormonen fördert wiederum hohe Kortisolwerte, die einen weiteren Blut­zucker­anstieg bedingen15.

Ein Maß für die Blutzucker­beeinflussung ist der glykämische Index eines Nahrungsmittels bzw. die glykämische Last17. Der Einfachzucker Glukose hat einen glykämischen Index von 100. Ballaststoffe verlangsamen die Blutzuckeraufnahme und senken die glykämische Last einer Mahlzeit18,19. Vor dem Hintergrund der parodontalen klinischen Studien zum Einfluss von einfachen Kohlenhydraten scheint somit nicht erst der entgleiste Diabetes mellitus (in Form von chronisch erhöhten Blutzuckerwerten), son­dern schon die „nor­male“ frequente Hyperglykämie negative Auswirkungen auf die parodontale Entzündung zu haben. Basierend auf den von Hujeol7 eingeschlossenen Studien trifft dies bereits bei einem Konsum von insgesamt ca. 45 g Saccharose verteilt auf mehrere tägliche Zwischenmahlzeiten zu. Weiter­hin erscheint es schlüssig, dass der Konsum von Ballaststoffen mit ge­ringerer parodontaler Entzündung korreliert20–22.

Im Gegensatz zur Glukose hat die Fruktose keinen Einfluss auf die Insulinausschüttung, jedoch auf die erhöhte Bildung von postprandialen Tri­glyceriden und LDL-Cholesterin23,24. Ein frequenter Konsum isolierter Fruktose fördert somit erhöhte Blutfettwerte, Blut­hochdruck und (selbst ohne Gewichtszunahme) das Risiko von kardiovaskulären Erkrankungen24. Nach Kenntnisstand der Autoren sind keine interven­tio­nellen Studien bezüglich isolierter Fruktose und Parodontitis bekannt. Jedoch zeigen Assoziationsstudien einen Zu­sammenhang zwischen erhöhten Blut­fetten (wie LDL) und einem häufigeren Vor­kommen von Parodontitis25,26. Wie auch bei der isolierten Glukose scheint ein Konsum von Fruktose im natürlichen Wirk­verbund mit Ballaststoffen (wie in Früchten oder Gemüsen), keine negativen metabolischen Folgen zu haben27.

Diese Zusammenhänge sind vor dem Hintergrund eines hochfrequenten Konsums von pro­zessierten Kohlenhydraten in der deutschen Bevölkerung zu sehen. Laut des 12. Ernährungsberichts liegt allein der durchschnittliche Zuckerkonsum in Deutschland weiterhin hoch, bei rund 30 kg im Jahr beziehungsweise um die 80 Gramm pro Tag28. 

Implikationen und praktische Relevanz

Vor dem Hintergrund der aufgeführten Studien scheint es sinnvoll, Patienten mit parodontalen Erkrankungen eine Reduktion bzw. Vermeidung von prozessierten, einfachen Kohlenhydraten und damit verbundenen Lebensmitteln zu empfehlen. Basierend auf den Daten einer Meta-Analyse scheint eine solche Empfehlung (bei Patienten mit frequentem Zuckerkonsum) die Gingivitis um etwa ein Drittel reduzieren zu können7.

Diese Empfehlung würde im Sinne des gemeinsa­men Risikofaktorenansatzes (common risk factor approach; CRFA) erfolgen und damit zugleich weitere assoziierte Erkrankungen, wie unter anderem Diabetes mellitus Typ II, Adipositas, Blut­hochdruck, Hypercholesterinämie und Karies positiv beeinflussen7,29,30.

In Anbetracht des hohen durchschnittlichen Konsums dieser Lebensmittel in der Bevölkerung wären zudem gesundheitspolitische Maßnahmen sinnvoll. Im Bereich der Kariesprävention scheinen zum Beispiel durch eine Zuckersteuer besonders sozial benachteiligte Patienten zu profitieren31.

Ein Beitrag von PD Dr. med. dent. Johan Wölber und PD Dr. med. dent. Christian Tennert, beide Freiburg

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Titelbild: Isolierte, prozessierte Saccharose (Foto: Doris Jungo / pixelio.de)
Quelle: Parodontologie, Ausgabe 4/17 Parodontologie Prävention und Prophylaxe Aus dem Verlag