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Therapieoptionen bei Nichtanlage der lateralen Oberkieferschneidezähne
Orthodontischer Lückenschluss versus prothetische Versorgung – Patientenbeispiele und Diskussion
In der Frontalansicht der Zähne und Gingiva fällt die Einstellung der Eckzähne anstelle der OK-2er kaum auf. Da sich die OK-3er in jeglicher Hinsicht sehr gut als 2er-Ersatz eigneten, sah die Patientin von der Möglichkeit zur geringfügigen Optimierung mittels kleiner Aufbauten im mesialen Inzisalkantenbereich ab.
Neben der Thematisierung allgemeiner diagnostischer und therapeutischer Aspekte bei Zahnnichtanlagen fokussiert dieser Beitrag von Prof. Bernd Lapatki für die Quintessenz Zahnmedizin 4/2022 auf die Entscheidungspfade bei Aplasie der oberen seitlichen Schneidezähne. Bei Vorliegen dieser Anomalie basiert die individuell optimale Therapie üblicherweise entweder auf einem orthodontischen Lückenschluss oder einer prothetischen Lösung (Adhäsivbrücke oder Implantatkrone). Dabei stehen insbesondere ästhetische Faktoren im oberen Frontzahnbereich im Fokus, was durch drei Patientenbeispiele praktisch demonstriert und vertieft wird.
Die Einführung der skelettalen Verankerung von Multibracketapparaturen mittels Mini-Implantaten hat das Spektrum des orthodontischen Lückenschlusses beträchtlich erweitert, sodass mittlerweile kollaterale Aspekte von Malokklusionen weitgehend unabhängig von den Therapieoptionen bei Zahnnichtanlagen betrachtet werden können. Ein entscheidender Faktor ist die gute interdisziplinäre Kommunikation zwischen Zahnarzt, Kieferorthopäde, Oralchirurg und Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigten. Üblicherweise sollte diese Absprache spätestens zum Beginn der späten Wechselgebissphase abgeschlossen sein.
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Einleitung
Das angeborene, das heißt kongenitale Fehlen von bleibenden Zähnen (ohne Berücksichtigung der Weisheitszähne) ist ein Befund, den Zahnärzte oder Kieferorthopäden relativ häufig diagnostizieren. Aufgrund der hohen Prävalenz – insbesondere der Aplasie der zweiten Unterkieferprämolaren und lateralen Oberkieferschneidezähne – ist der klinisch praktizierende Zahnarzt sehr häufig mit Zahnnichtanlagen konfrontiert. In diesem Beitrag werden die grundlegenden Therapieoptionen bei Aplasie der oberen seitlichen Schneidezähne thematisiert. Dabei liegt der Fokus auf dem orthodontischen Lückenschluss, der neben dem prothetischen Lückenschluss die mit am häufigsten angewandte Therapieoption bei Aplasie der Oberkiefer (OK)-2er darstellt.
Nichtanlagen treten entweder unabhängig von anderen Krankheiten als sogenannte nonsyndromale dentale Aplasien oder als Phänotyp bei mehr als 150 Syndromen auf. Bisher wurden ca. 80 Gene identifiziert, die im Zusammenhang mit dem Auftreten syndromaler Nichtanlagen stehen30. Die Angaben zur Prävalenz nonsyndromaler dentaler Aplasien schwanken zwischen 3,4 und 10,1 Prozent11,17. Für Europa wird eine Häufigkeit von 5,5 Prozent angegeben. Basierend auf der Anzahl der fehlenden Zähne (ohne Berücksichtigung der Weisheitszähne) wird zwischen Hypodontie (< sechs fehlende permanente Zähne) und Oligodontie (sechs beziehungsweise > sechs fehlende permanente Zähne) unterschieden. Bei 48 Prozent der betroffenen Patienten liegt eine Aplasie nur eines einzelnen Zahns vor beziehungsweise bei 35 Prozent eine Aplasie von zwei Zähnen. Bei nur 2,6 Prozent der Betroffenen fehlen sechs oder mehr Zähne17. Am häufigsten von einer Aplasie betroffen sind die unteren zweiten Prämolaren, gefolgt von den oberen seitlichen Inzisivi und den oberen zweiten Prämolaren9,11,17,18.
Diagnostik bei dentalen Aplasien
Als diagnostisches Mittel ist bei dentalen Aplasien die Panoramaschichtaufnahme (PSA) von zentraler Bedeutung. Von den am häufigsten nicht angelegten Zähnen ist der untere zweite Prämolar der letzte, der im späten Wechselgebiss in der Stützzone durchbricht3,10. Daher wird eine Aplasie dieses Zahns tendenziell erst relativ spät festgestellt. Für den Beginn der Mineralisation des Unterkiefer (UK)-5ers wird ein Alter von drei bis dreieinhalb Jahren angegeben12. Jedoch sind auch Fälle von Spätanlagen beschrieben, bei denen erst nach dem achten Lebensjahr ein röntgenologischer Nachweis einer entsprechenden Zahnanlage möglich war2. Dies bedeutet, dass die endgültige Diagnose einer Nichtanlage dieses Zahns nicht zu früh gestellt werden darf, was vor allem im Falle einer Erwägung von Ausgleichsextraktionen im Rahmen eines orthodontischen Lückenschlusses von Relevanz ist. Nicht selten ist das parallele Auftreten einer Aplasie auf der einen Seite und einer Spätanlage – sozusagen als Mikrosymptom einer Aplasie – auf der gegenüberliegenden Seite vorzufinden. Ebenso ist die Kombination einer Aplasie mit kontralateraler Hypoplasie (Abb. 2d) relativ häufig anzutreffen.
Grundsätzliche Therapieoptionen
Bei Aplasie der OK-2er sind langfristig drei therapeutische Optionen sinnvoll:
der orthodontische Lückenschluss,
der prothetische Ersatz mittels Adhäsivbrücke oder
der prothetische Ersatz mittels Implantatkrone.
Bei der Entscheidung hinsichtlich des therapeutischen Vorgehens bei Nichtanlage eines oder beider seitlicher OK-Inzisivi stehen langzeitprognostische, okklusale beziehungsweise funktionelle sowie ästhetische Gesichtspunkte im Vordergrund, die bei der Therapieentscheidung immer sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen (Abb. 1).
Abb. 1 Entscheidungspfade zur Festlegung eines individuell optimalen Therapiekonzepts bei Aplasie eines oder beider seitlicher Oberkiefer (OK)-Inzisivi unter Berücksichtigung der Indikationen und Kontraindikationen des orthodontischen Lückenschlusses sowie der beiden prothetischen Lösungen (Adhäsivbrücke, Implantatkrone). Die Entscheidung für eine der Therapieoptionen wird durch die relevanten kollateralen dentalen Befunde mit beeinflusst (Pb = Prämolarenbreite, Unterkiefer = UK).
Genereller Vorteil des orthodontischen Lückenschlusses ist das Erreichen einer geschlossenen Zahnreihe mit eigenen natürlichen Zähnen. Obwohl auch die anderen beiden Therapieoptionen langfristig eine sehr gute Prognose besitzen4,7,8, weisen natürliche, parodontal gesunde und nichtrestaurierte Zähne langfristig immer noch die beste Prognose auf16. Ein grundsätzlicher Vorteil des orthodontischen Lückenschlusses gegenüber einer Implantatversorgung ist, dass die Lücke schon relativ früh geschlossen werden kann. Dabei erfolgt schon im späten Wechselgebiss ein partieller Lückenschluss mittels eines spontanen oder gesteuerten Durchbruchs des distalen Nachbarzahns in den Bereich der Nichtanlage hinein. Finalisiert wird der Lückenschluss dann im frühen bleibenden Gebiss zumeist mithilfe einer festsitzenden Therapie. Der relativ früh mögliche orthodontische Lückenschluss ist insbesondere bei OK-2er-Nichtanlagen im Hinblick auf das sich steigernde ästhetische Bewusstsein im Teenageralter ein nicht unerheblicher Aspekt. Ähnliches trifft auf eine prothetische Lückenversorgung mittels Adhäsivbrücke zu, denn aufgrund der fehlenden Verbindung mit dem Alveolarknochen kann eine Adhäsivbrückenversorgung grundsätzlich schon nach vollständigem Durchbruch der als Verankerung dienenden bleibenden Nachbarzähne erfolgen13. Im Gegensatz dazu kann bei einer Entscheidung für eine Implantatkrone die definitive Therapie erst nach Abschluss des vertikalen Alveolarfortsatzwachstums, das heißt frühestens im Alter von 18 bis 20 Jahren, durchgeführt werden14,15,21,23. Bis zu diesem Zeitpunkt muss eine temporäre Lückenversorgung mit all ihren Nachteilen erfolgen.
Abb. 2 a und b Patientenbeispiel 1: Situation vor Beginn der kieferorthopädischen Therapie mit 10 Jahren und 8 Monaten. Die Patientin weist eine Aplasie des Zahns 12 sowie einen Zapfenzahn 22 auf. Der Therapieplan beinhaltete einen orthodontischen Lückenschluss nach Extraktion des Zapfenzahns 22 mit Einstellung beider Eckzähne an 2er-Stelle. Frontalansichten von extra- und intraoral.
Abb. 2 a und b Patientenbeispiel 1: Situation vor Beginn der kieferorthopädischen Therapie mit 10 Jahren und 8 Monaten. Die Patientin weist eine Aplasie des Zahns 12 sowie einen Zapfenzahn 22 auf. Der Therapieplan beinhaltete einen orthodontischen Lückenschluss nach Extraktion des Zapfenzahns 22 mit Einstellung beider Eckzähne an 2er-Stelle. Frontalansichten von extra- und intraoral.
Abb. 2 c Frontaler Ausschnitt der Panoramaschichtaufnahme (PSA), auf der die Aplasie eindeutig verifiziert werden kann.
Abb. 2 d OK-Aufsichtsaufnahme: Der bleibende Zahn 13 ist anstelle des fehlenden Zahns 12 durchgebrochen mit Persistenz des Zahns 53 distal von 13.
Abb. 3 a Patientenbeispiel 1: Situation in der Retentionsphase ca. 5 Jahre nach Entfernung der Multibracketapparatur. Die 22-jährige Patientin trägt seit 3 Jahren keine Retentionsapparaturen mehr. Die frontale Gesichtsaufnahme beim Lächeln zeigt eine harmonische dentofaziale Ästhetik mit vollem bukkalen Korridor.
Abb. 3 b In der Frontalansicht der Zähne und Gingiva fällt die Einstellung der Eckzähne anstelle der OK-2er kaum auf. Da sich die OK-3er in jeglicher Hinsicht sehr gut als 2er-Ersatz eigneten, sah die Patientin von der Möglichkeit zur geringfügigen Optimierung mittels kleiner Aufbauten im mesialen Inzisalkantenbereich ab.
Abb. 3 c Entsprechend der mesialen Einstellung der OK-Seitenzähne ist die sagittale Verzahnung annähernd 1 Pb distal. Die OK- und UK-Inzisivi sind vertikal abgestützt.
Abb. 3 d In der OK-Aufsichtsaufnahme fällt eine kleine, frontal unsichtbare Lücke distal des Zahns 23 von ca. 0,5 mm auf, die sich in den 3 Jahren seit Beendigung der Retentionsmaßnahmen bildete. Eine mögliche Korrektur mittels Aligner wurde von der Patientin nicht gewünscht.
Im Falle einer Aplasie der OK-2er ist eine längerfristige Lückenversorgung durch den Erhalt des entsprechenden Milchvorgängers obsolet. Dies steht primär mit dem Verlust der seitlichen Milchschneidezähne im Zuge des mesialen Durchbruchs der bleibenden Eckzähne im Bereich der Aplasie (Abb. 2a bis d oder Abb. 4c und d) in Zusammenhang. In den seltenen Fällen, in denen die seitlichen Milchschneidezähne nach Durchbruch der bleibenden 3er persistieren, sprechen die grazile Wurzelmorphologie und die Tendenz zur Wurzelresorption mit fortschreitendem Alter gegen einen langfristigen Ersatz.
Im Gegensatz dazu kann bei Aplasie der zweiten UK-Prämolaren der Milchzahnerhalt – bei fehlenden koronalen und apikalen Hartsubstanzverlusten durch Karies oder Resorption sowie bei Ausbleiben einer Ankylose – durchaus eine sinnvolle beziehungsweise sogar die zu präferierende Lösung sein, falls auch der dritte Molar (8er) im entsprechenden Quadranten nicht angelegt ist5,22.
Ein gewisser Nachteil einer Adhäsivbrückenversorgung besteht in der Einbeziehung eines (meist) vollständig gesunden Nahbarzahns in die Restauration, wobei der therapeutische Eingriff rein auf den Schmelzbereich beschränkt und als minimal zu betrachten ist13. Zwar müssen bei den beiden alternativen Therapieoptionen die Nachbarzähne nicht präpariert werden, jedoch ist beim orthodontischen Lückenschluss häufig eine mesiale und distale Schmelzreduktion an den OK-3ern (max. 0,3 mm pro Approximalfläche) sinnvoll.
Der orthodontische Lückenschluss
Aufgrund des relativ frühen Zeitpunkts eines orthodontischen Lückenschlusses bei Nichtanlage eines beziehungsweise beider OK-2er entfällt die Notwendigkeit einer temporären prothetischen Lückenversorgung zum Beispiel mit einer Klammerprothese beziehungsweise mit einer knöchern verankerten provisorischen Krone, die entweder direkt über eine Minischraube im Alveolarfortsatz oder über einen Ausleger an zwei palatinalen Minischrauben im Gaumen befestigt werden kann28.
Der orthodontische Lückenschluss mit Einstellung der OK-3er an 2er-Stelle kann durch einen relativ frühen Therapiebeginn schon im späten Wechselgebiss vereinfacht werden, indem – bei nur unilateraler Aplasie, gegegenenfalls auch durch Extraktion des auf der Gegenseite angelegten hypoplastischen 2ers – ein mesialer Durchbruch der 3er in die 2er-Region erreicht wird. Dies reduziert den späteren aktiv-mechanischen Aufwand und führt häufig auch zu einer günstigeren gingivalen Situation.
Abb. 4 a Patientenbeispiel 2: prätherapeutische Situation mit 12 Jahren und 7 Monaten. Der Patient weist eine Aplasie beider seitlicher OK-Inzisivi auf. Die extraorale Frontalansicht zeigt die Lücken distal der mittleren Inzisivi.
Abb. 4 b In der Seitenansicht ist eine deutliche progene Tendenz erkennbar. Dafür sprechen der knappe sagittale und vertikale frontale Überbiss bei schon labial gekippter OK-Front sowie die neutrale sagittale Beziehung der Sechsjahresmolaren. In der späten Wechselgebissphase wäre eine leichte Distal-
verzahnung der 6er physiologisch, da die UK-6er nach Verlust der zweiten Milchmolaren noch um ca. 2 mm nach mesial wandern.
Abb. 4 c Ausschnitt der PSA mit eindeutig verifizierbaren Aplasien der Zähne 12 und 22. Die bleibenden Zähne 13 und 23 brechen direkt distal der mittleren Inzisivi durch.
Abb. 4 d OK-Aufsichtsaufnahme.
Abb. 5 a Patientenbeispiel 2: skelettal verankerte Mesialisierung der OK-Seitenzähne. Nach funktionskieferorthopädischer Kontrolle des progenen Wachstums wurde im OK im Alter von 13 Jahren und 10 Monaten mit dem aktiv-mechanischen Lückenschluss begonnen. Die OK-Aufsichtsaufnahme dokumentiert die Situation nach vollständiger Mesialisierung der Eckzähne und Prämolaren. Nach Umbau der palatinalen Suprakonstruktion wurden anschließend die Molaren mesialisiert.
Abb. 5 b Um eine effiziente Mesialbewegung der OK-Seitenzähne zu gewährleisten, wurde die satte Verzahnung mittels einer ganztätig getragenen UK-Tiefziehschiene mit seitlichen planen Aufbissplateaus entkoppelt.
Abb. 6 a Patientenbeispiel 2: posttherapeutische Situation mit 17 Jahren und 7 Monaten, das heißt ca. 1 Jahr nach Debracketing. Die extraorale Ansicht zeigt das harmonische dentale Erscheinungsbild, wobei der Ersatz der nicht angelegten OK-2er durch die mit Komposit inzisal aufgebauten Eckzähne kaum auffällt.
Abb. 6 b Die laterale Aufnahme der Okklusion zeigt eine sichere inzisale Abstützung mit scharfer Interkuspidation im Seitenzahnbereich, wobei die 6er um 1 Pb distal verzahnt sind. Die progene Wachstumstendenz konnte somit kontrolliert werden.
Abb. 6 c Die frontale dentale Ansicht zeigt den ähnlich hohen Gingiaverlauf von mittleren OK-Inzisivi und an 2er-Stelle positionierten Eckzähnen. Ästhetisch günstiger wären ein etwas kaudaler Gingivaverlauf im 3er-Bereich und ein etwas stärkerer kranialer Gingivaverlauf im Bereich der OK-4er. Eine mögliche Gingivektomie an den Zähnen 14 und 24 zervikal zur Verbesserung der Rot-Weiß-Ästhetik wurde seitens des Patienten jedoch abgelehnt.
Abb. 6 d Die OK-Aufsichtsaufnahme zeigt den vollständigen Lückenschluss im OK sowie die gut gelungene plastische Umgestaltung der an 2er-Position stehenden Eckzähne (Durchführung durch Zahnarzt Alexander Gerhart, Universitätsklinikum Ulm) nach approxialer Schmelzreduktion an diesen Zähnen (mesial und distal je
0,3 mm) gegen Ende der Multibrackettherapie.
Die Frage der Anlage der Weisheitszähne ist bei der Entscheidung für oder gegen einen Lückenschluss im OK eher von untergeordneter Bedeutung. Zwar ist eine 8er-Anlage im OK aufgrund der nach Lückenschluss sich deutlich verbessernden Platzsituation und der damit verbundenen hohen Wahrscheinlichkeit der spontanen Einstellung primär impaktierter 8er in den Zahnbogen1 grundsätzlich vorteilhaft. Jedoch ist bei einem orthodontischen Lückenschluss im OK – im Gegensatz zum Lückenschluss bei Aplasien im UK – die Anlage der OK-8er für das Erreichen stabiler okklusaler Verhältnisse nicht zwangsweise notwendig. Dies liegt daran, dass im Falle einer Mesialisierung der oberen Dentition um eine Prämolarenbreite (Pb) immer noch eine sichere vertikale Abstützung der UK-7er durch die mesialisierten OK-7er im Sinne einer Distalverzahnung von 1 Pb gegeben ist (Abb. 3c oder Abb. 6b ).
Okklusale und ästhetische Gesichtspunkte des orthodontischen Lückenschlusses
Eine „funktionelle“ Kritik am orthodontischen Lückenschluss bezieht sich häufig auf die Tatsache, dass bei Positionierung der OK-3er an 2er-Stelle die oberen und unteren Eckzähne keine Führungsfunktion bei exkursiven UK-Bewegungen mit Okklusalkontakt mehr besitzen. Anstelle der mesial positionierten OK-3er übernehmen nach einem Lückenschluss im OK die OK-4er und UK-3er die „Führungsfunktion“ bei Laterotrusionsbewegungen. Das primär der restaurativen Zahnmedizin zugrunde liegende „optimale“ Okklusionsprinzip menschlicher Zähne beruht auf den Prinzipien, dass bei habitueller beziehungsweise b„zentrischer“ Okklusion alle Seitenzähne gleichzeitig okkludieren, bei lateralen Exkursionen der ipsilaterale Eckzahnkontakt im Sinne einer Führungsfunktion zu einer unmittelbaren Disklu-sion der Seitenzähne führt und dass die Frontzähne bei Protrusion als führende Zähne die Seitenzähne diskludieren26. Eine entsprechende Literaturrecherche zeigt, dass dieses sehr tief im Bewusstsein der Zahnärzte und Zahnärztinnen verwurzelte Okklusionsschema recht dogmatisch ist, welches insbesondere auf die gegenseitige Protektion der Zähne bei dentalen Restau-rationen zugeschnitten ist. So zeigten Studien über natürliche Okklu-sionsmuster29, dass die Kontaktsituation in „zentrischer“ Okklusion keinem Ideal folgt. So wurde sowohl eine Eckzahn- als auch Gruppenführung als „physiologisch“ angesehen. Zudem konnte keine überzeugende wissenschaftliche Evidenz für die funktionellen Vorteile der Eckzahnführung im natürlichen Gebiss gefunden werden. So ist allgemein davon auszugehen, dass die Eckzahn- und Gruppenführung im Zuge der Abrasion des Gebisses unter Funktion als zeitlich aufeinander folgende Zustände an-zusehen sind. Eine durchaus plausible Rolle der Eckzahnführung besteht im Gebiss mit natürlichen Eckzähnen und teilrestaurierten Seitenzähnen (zum Beispiel mit keramischen Kronen); hier absorbieren die Eckzähne den größten Teil der mechanischen Energie und verhindern gleichzeitig größere Abrasionen von natürlichen Kauflächen durch antagonistische Zähne mit restaurierten Kauflächen. Jedoch ist hier anzufügen, dass dieses „morphologische“ Konzept nicht durch funktionelle Daten validiert ist. Im Gegensatz dazu konnten Studien zeigen, dass der OK-2er-Ersatz durch die 3er langfristig zu ausgezeichneten funktionellen und parodontalen Ergebnissen führt19,20.
Die große ästhetische Bedeutung des Ersatzes nicht angelegter OK-2er steht mit ihrer Position im ästhetisch sehr sensiblen OK-Frontzahnbereich in Zusammenhang. Im Falle eines orthodontischen Lückenschlusses erfolgt der Ersatz des aplastischen OK-2er durch den OK-3er. Da der Eckzahn anstelle des seitlichen Inzisivus steht, können sich eine stark gelbliche Kronenfarbe, eine relativ große, spitz zulaufende beziehungsweise bauchige Krone (Abb. 7b bis d) und/oder ein im Vergleich zu den mittleren Inzisivi relativ kranial verlaufender Gingivalsaum als ästhetisch ungünstig herausstellen (Abb. 6a bis c). Sind diese Faktoren anzutreffen, müssen die Optionen Lückenschluss versus Adhäsivbrücken- versus Implantatversorgung unter Berücksichtigung aller für die Therapieentscheidung relevanter Befunde besonders sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Diese Abwägung kann sich an die in Abbildung 1 skizzierten Entscheidungspfade anlehnen, in denen alle interdisziplinären Therapieoptionen berücksichtigt sind. Zudem sind posttherapeutisch Veränderungen der ursprünglichen Eckzahnmorphologie in Betracht zu ziehen, um die möglichen ästhetischen Defizite nach Ersatz der OK-2er durch die Eckzähne zu minimieren (Abb. 6 und Abb. 9).
Lückenschluss mit skelettaler Verankerung
Die mittlerweile gut etablierten Möglichkeiten der skelettalen Verankerung im anterioren Gaumen – entweder mittels eines osseointegrierten kurzen Implantats25 oder zweier nichtosseointegrierender Mini-Implantate27 – vereinfachen den orthodontischen Lückenschluss bei Aplasie der OK-2er beträchtlich, denn sie verhindern insbesondere bei asymmetrischem Lückenschluss eine dentale Mittellinienverschiebung und erleichtern die Einstellung einer sicheren Okklusion. Letzteres ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn prätherapeutisch keine Distalverzahnung, sondern eine neutrale Molarenbeziehung beziehungsweise eine progene Tendenz (Abb. 4b) oder größere sagittale beziehungsweise transversale Asymmetrien bestehen.
In der Vergangenheit stellte die progene Tendenz eine klare Kontraindikation für einen orthodontischen Lückenschluss im OK dar. Das Problem war, dass bei rein dental abgestützter Mesialisierung der OK-Seitenzähne eine Retraktion der OK-Front im Zuge des Lückenschlusses (zumindest in gewissem Ausmaß) unvermeidbar war. Dies führte zu einem Risiko für einen Kopf- beziehungsweise umgekehrten Überbiss. Die Anwendung der skelettalen Verankerung im anterioren Gaumenbereich ermöglicht heutzutage relativ problemlos eine isolierte Mesialisierung der Seitenzähne beziehungsweise – falls indiziert – sogar der gesamten Zahnreihe ohne gleichzeitige Frontretraktion (Abb. 5a und b). Daher gehört die progene Tendenz als Kontraindikation eines orthodontischen Lückenschlusses im OK in einem modernen Therapiekonzept der Vergangenheit an. Auch bei gleichzeitigen Aplasien im UK erweist sich die skelettale Verankerung bei einem reinen Lückenschluss von distal als sehr nützliches Tool (Abb. 8a und b).
Abb. 7 a Patientenbeispiel 3: 11-jährige Patientin mit Aplasie beider OK-2er und UK-5er. Aufgrund der deutlichen Rücklage des Unterkiefers erfolgte zuvor eine funktionskieferorthopädische UK-Wachstumsförderung und eine Hemisektion erst der distalen, dann der mesialen Hälften der zweiten Milchmolaren im UK zur Förderung der passiven Mesialmigration der permanenten UK-Molaren. Die Aplasie je eines bleibenden Zahns pro Quadrant konnte anhand der zu Beginn der Frühbehandlung mit 9 Jahren angefertigten PSA eindeutig diagnostiziert werden.
Abb. 7 b Der Durchbruch der permanenten OK-Eckzähne erfolgte in Regio der fehlenden 2er.
Abb. 7 c Die Lateralansicht auf die Zahnreihen zeigt die sehr spitz zulaufende Form der OK-3er mit relativ bauchiger Krone, weshalb sich die OK-3er nur eingeschränkt als OK-2er-Ersatz eignen. Günstig ist die geringe Kronenhöhe der 3er mit entsprechend niedrigem labialen Gingivaverlauf.
Abb 7 d Die OK-Aufsicht zeigt, dass der Platzüberschuss trotz Aplasie der 2er lediglich ca. 2 mm pro Quadrant beträgt. Trotz der suboptimalen Eignung der OK-3er als 2er-Ersatz erfolgte nach Abwägung der Vor- und Nachteile gemeinsam mit den Eltern die Entscheidung für einen orthodontischen Lückenschluss in allen vier Quadranten. Hauptgründe dafür waren, dass eine Lückenöffnung im OK aufgrund der Platzsituation sehr aufwendig gewesen wäre und dass durch den orthodontischen Lückenschluss vier Implantatkronen vermieden werden konnten.
Abb. 8 a Patientenbeispiel 3: Zur Behebung der Distalverzahnung und zum Restlückenschluss im UK rein von distal wurden die UK-Molaren gegen 2 zwischen den 3er- und 4er-Wurzeln inserierte Mini-Implantate mesialisiert.
Abb. 8 b Seitenansicht auf die neutrale bukkale Okklusion unmittelbar nach Bracket-Entfernung im Alter von 14 Jahren und 10 Monaten. Trotz inzisaler Kürzung der OK-3er sowie einer leichten Verschmälerung dieser Zähne um mesial und distal je 0,3 mm in der Endphase der festsitzenden Therapie fällt ihre ungünstige Kronenmorphologie etwas negativ auf.
Abb. 9 a Patientenbeispiel 3: Situation nach plastischer Umgestaltung der OK-3er (Durchführung: Dr. Eberhard Fleiß, Ehingen). Von extraoral ist der Lückenschluss in der OK-2er-Region nur schwierig erkennbar.
Abb. 9 b Die frontale dentale Ansicht zeigt einen weitgehend harmonischen Gingivaverlauf mit einer leichten Gingivarezession im Bereich des Zahns 11.
Abb. 9 c Die Seitenzahnreihen weisen nach dem Settling eine satte Neutralokklusion auf. Der gut gelungene Aufbau der mesialen Ecken der OK-3er kaschiert die initial ungünstige Eckzahnmorphologie weitgehend.
Abb. 9 d Aufsicht auf den ausgeformten OK-Zahnbogen ohne interdentale Lücken.
Entscheidender Einfluss kollateraler dentofazialer Befunde für die Therapieentscheidung
Ähnlich wie bei anderen Aplasien wird auch bei Nichtanlage der OK-2er die therapeutische Entscheidung durch das Vorliegen von begleitenden kieferorthopädischen Anomalien und kollateralen Befunden stark beeinflusst (vgl. Abb. 1). Beispielsweise kann im Falle einer ausgeprägten Distalverzahnung mit dorsaler UK-Lage durch einen bilateralen isolierten Lückenschluss im OK gleichzeitig eine Korrektur der Distalverzahnung erfolgen. Dies ist jedoch nur dann anzustreben, wenn sich die Retraktion der OK-Inzisivi nicht ungünstig auf das Gesichtsprofil auswirkt und die apikale Basis im OK-Frontzahnbereich nicht zu weit anterior liegt. Zudem kann es im Falle eines deutlichen Platzmangels in beiden Zahnbögen (sogenannter primärer Engstand) sinnvoll sein, durch eine Ausgleichsextraktion der UK-4er bbeziehungsweise -5er sowie gegebenenfalls des kontralateral angelegten 2ers gleichzeitig die Diskrepanzen zwischen der Zahn- und Kiefergröße sowie zwischen der Anzahl vor-handener Zähne im OK und UK auszugleichen. Auch zusätzliche Aplasien im UK – relativ häufig kommen kombinierte Nichtanlagen der OK-2er sowie der UK-5er vor – können in Grenzfällen, das heißt bei kompromittierter OK-3er- Morphologie, für einen Lückenschluss in allen vier Quadranten sprechen (Abb. 7 und Abb. 9).
Positionierung und Umgestaltung der Eckzähne und ersten Prämolaren
Aufgrund der großen Bedeutung der Frontzahnästhetik insbesondere im OK sind bei einem orthodontischen Lückenschluss gewisse planerische und therapeutische Grundsätze zu berücksichtigen, die einen entscheidenden Einfluss auf die ästhetische Endsituation nehmen24. Sie bewirken, dass ein plastisch umgestalteter Eckzahn viel eher als „lateraler Schneidezahn“ wahrgenommen wird.
Aus der Form der Eckzahnkrone folgt zwangsläufig die Notwendigkeit der Reduzierung der inzisalen Spitze. Erfahrungsgemäß ist diese Maßnahme schon unmittelbar vor der Bracketpositionierung zielführend, um die daraus resultierenden ästhetischen Vorteile schon während der Therapiephase zu nutzen und eine gezieltere Bracketpositionierung zu ermöglichen. Des Weiteren ermöglicht die inzisale Kürzung der Eckzähne eine etwas weiter kaudale, das heißt extrudierte Positionierung dieser Zähne. Auf diese Weise wird die Kronenhöhe der 3er etwas reduziert und der häufig relativ kraniale Gingivaverlauf zumindest partiell kompensiert. Zudem ist an den OK-3ern häufig mesial und distal eine leichte Schmelzreduktion von ca. 0,3 mm je Fläche indiziert, um eine harmonische Breitenrelation von OK- und UK-Frontzahnmaterial und auch ein ausgewogenes Breitenverhältnis innerhalb des OK-Frontzahnsegments zu erreichen (Abb. 6 und Abb. 9). Dadurch wird die interinzisale Abstützung begünstigt und zudem die frontale dentale Ästhetik verbessert. Abhängig von der Eckzahnmorphologie ist in manchen Fällen auch eine Verringerung der labiopalatinalen Kronendicke sinnvoll, um eine zu weit labiale Position des an 2er-Stelle stehenden dickeren 3ers zu vermeiden. Im Gegensatz zum Eckzahn ist beim in 3er-Position eingestellten ersten Prämolaren darauf zu achten, dass der Gingivaverlauf möglichst gleich hoch beziehungsweise sogar weiter kranial als der des an 2er-Stelle eingestellten 3ers zu liegen kommt ‒ optimalerweise auf Höhe des Gingivaverlaufs der 1er. Hierfür kann es notwendig sein, den OK-4er nicht ganz in Okklusion, das heißt leicht intrudiert einzustellen und die labiale Facette später mit Komposit oder durch ein Veneer nach inzisal zu verlängern24.
Die beschriebenen einschleifenden Maßnahmen und Grundregeln für die genaue Positionierung der Zähne können spätestens noch in der kieferorthopädischen Finishing-Phase vorgenommen werden. Ihre Berücksichtigung schafft eine individuell optimale Ausgangslage für spätere plas-tische und ästhetische Umgestaltungsmaßnahmen nach Abschluss der aktiv-mechanischen kieferorthopädischen Therapie. Diese können eine nur in Ausnahmefällen indizierte Reduzierung der zentralen labialen Eckzahnwölbung zur Abflachung der Vestibulärfläche, eine Anpassung der Zahnfarbe durch Vitalbleaching (falls notwendig) sowie weitere definitive ästhetische Korrekturen der 3er- und 4er-Kronenformen mittels Komposit oder Veneers beinhalten. Dabei ist darauf zu achten, dass herausnehmbare Re-tentionsapparaturen den geänderten palatinalen Zahnkonturen angepasst und semipermanente Retainer erst nach diesen definitiven Korrekturen eingesetzt werden. Erfah-rungsgemäß willigen jedoch nicht alle Patienten in diese optionalen posttherapeutischen Maßnahmen ein.
Ein bei Patienten mit Aplasie grundsätzlich wichtiger Aspekt ist die möglichst frühzeitige Kommunikation des Befunds zwischen Zahnarzt und Kieferorthopäden. Nur sie ermöglicht eine optimale strategische Planung und bei Entscheidung für einen orthodontischen Lückenschluss das vollständige Ausschöpfen der Beeinflussung des Zahndurchbruchs gegebenenfalls durch frühzeitige Extraktion von Milchzähnen. Ganz grundsätzlich sollte die Entscheidung für oder gegen einen orthodontischen Lückenschluss in enger Rücksprache zwischen behandelndem Zahnarzt und Kieferorthopäden sowie unter Einbeziehung des Patienten beziehungsweise seiner Eltern oder Erziehungsberechtigten getroffen werden.
Fazit
Bei der Abwägung der Therapieoptionen bei Aplasie der seitlichen OK-Schneidezähne (orthodontische Lückenschluss versus prothetische Lösung) spielen okklusale, funktionale und ästhetische Gesichtspunkte eine Rolle. Relevant sind in diesem Zusammenhang insbesondere eine ungünstige Morphologie und Farbe der OK-3er in Gestalt von relativ großen und gelb gefärbten Kronen mit starker vestibulärer Wölbung und relativ weit kranial verlaufendem Gingivarand.
Bei suboptimaler Morphologie und Farbe der oberen Eckzähne spielen bei der Entscheidung für oder gegen einen orthodontischen Lückenschluss auch kollaterale dentale Befunde eine wichtige Rolle. Dabei wird ein orthodontischer Lückenschluss durch eine Distalverzahnung, zusätzliche dentale Aplasien im Unterkiefer oder primäre Engstände begünstigt. Speziell in diesen Fällen ist jedoch eine sorgfältige Abwägung aller Therapieoptionen in enger Rücksprache mit dem Patienten beziehungsweise seinen Eltern oder Erziehungsberechtigten angezeigt.
Eine sehr ungünstige Morphologie und Farbe der OK-3er sind gewichtige Argumente für eine prothetische Lösung, wobei aufgrund der Problematik des häufig auch im Erwachsenenalter noch fortschreitenden vertikalen alveolären Wachstums eine Implantatversorgung im frühen Erwachsenenalter als kritisch zu betrachten ist. Im Gegensatz dazu ist bei adäquater Vorgehensweise die Adhäsivbrücke eine ästhetisch hochwertige und auch langfristig sehr stabile prothetische Lösung für den OK-Frontzahnbereich.
Bei einer Entscheidung für einen orthodontischen Lückenschluss muss bei Aplasie von nur einem der beiden seitlichen OK-Inzisivi – insbesondere bei Hypoplasie des kontralateralen Inzisivus – aus ästhetischen und Symmetriegründen eine Extraktion des angelegten seitlichen Inzisivus erwogen werden.
Mittlerweile sind die Möglichkeiten der skelettalen Verankerung im Oberkiefer mithilfe palatinaler Mini-Implantate sehr gut etabliert, sodass der orthodontische Lückenschluss auch bei leicht progenen Patienten nicht mehr kontraindiziert ist.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Dr. Bernd G. Lapatki, Ulm